HWS-Immobilisation

Ist der Stifneck noch zeitgemäß?

08.08.2022

Fallbeispiel:

Ein 60-jähriger Fahrer eines Motorrollers wird innerorts beim linksabbiegen von einem Pkw überholt und zu Fall gebracht. Er stürzt auf die linke Körperseite. Bei Ankunft des Rettungsdienstes ist er wach und orientiert, A/B/C stabil und klagt über Schmerzen in der linken Schulter und der linken Hüfte. Er war nicht bewusstlos, hat keine neurologischen Ausfallerscheinungen und keine Amnesie. 

Sollte in dieser Situation eine Zervikalstütze angelegt werden?

In der (noch) aktuellen S3-Leitlinie Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung aus 2016 ist dazu folgende Empfehlung zu lesen:

 

"Die Halswirbelsäule sollte bei der schnellen und schonenden Rettung vor der eigentlichen technischen Rettung immobilisiert werden. Die Notwendigkeit zur Sofortrettung (z.B. Feuer / Explosionsgefahr) stellt eine Ausnahme dar." (Empfehlungsgrad: Expertenmeinung)"

 

 

Die Indikation zur Immobilisation der Wirbelsäule soll sich jedoch am Zustand des Patienten orientieren. Um das Vorliegen einer HWS-Verletzung festzustellen, finden neben der klinischen Untersuchung und der Beachtung des Unfallherganges auch Scoring-Systeme verbreitete Anwendung. Eine der bekanntesten Studien zu diesem Thema ist die "National Emergency X-Radiography Utilisation Study (NEXUS)", die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde. An ihr nahmen 21 Traumazentren in den USA mit insgesamt 34.069 Patienten teil. Bei den betroffenen Patienten wurden 818 relevante HWS-Verletzungen gefunden, von denen 8 nach den NEXUS-Kriterien nicht erkannt wurden. Dies entspricht einer Sensitivität von 95% mit einem negativen Vorgersagewert von 99,6%.

 

Die NEXUS-Studie formuliert fünf Kriterien, bei deren Fehlen eine Verletzung der Halswirbeläule unwahrscheinlich ist:

  • Bewusstseinsstörung
  • fokalneurologisches Defizit
  • Druckschmerz über der Mittellinie der HWS oder Muskelhartspann
  • Intoxikation
  • Extremitätentrauma (von der HWS-Verletzung ablenkende andere schwere Verletzung)

Sobald eines dieser Kriterien vorliegt, muss von einer Verletzung der Halswirbelsäule ausgegangen werden.

 

Eine weitere Studie ist die "Canadian-C-Spine-Rule". Die definiert klinische Parameter, mit denen man nach einem HWS-Trauma die Indikationsstellung für eine bildgebende Diagnostik überprüfen kann. Sie differenziert Hochrisiko- und Niedrigrisikofaktoren. Häufig wird sie auch benutzt, um über eine Wirbelsäulenimmobilisation zu entscheiden.

 

Hochrisikofaktoren:

  • Alter > 65 Jahre
  • gefährlicher Unfallmechanismus (z.B. Sturz aus mehr als 2m Höhe, Schlag oder Sturz auf den Kopf)
  • Parästhesien in den Extremitäten

Ist eines dieser 3 Risiken erfüllt, sind eine bildgebende Diagnostik und eine Immobilisation indiziert.

 

Niedrigrisikofaktoren:

  • einfacher Auffahrunfall
  • ambulanter Aufnahmestatus
  • sitzende Position in der Ambulanz
  • verzögerter Schmerzbeginn
  • fehlender Druckschmerz

Sind diese Kriterien erfüllt, wird die Rotationsfähigkeit der Halswirbelsäule (45 Grad) überprüft. Ist die Rotation nicht beeinträchtigt, ist keine bildgebende Diagnostik und keine Immobilsation notwendig.

neue dänische Studie aus 2019

Im Jahr 2019 wurde in Dänemark eine neue Leitlinie veröffentlicht, die neuen Anlass zu Diskussionen rund um das Thema Halswirbelsäulenimmobilisation gibt (Maschmann C et al.: New clinical guidelines on the spinal stabilisation of adult trauma patients - consensus and evidence based. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation an Emergency Medicine 2019). Sie stützt ihre Einschätzung, dass eine Neubewertung der Evidenz und neue Empfehlungen überfällig sind, primär auf zwei Studien:

  1. Die retrospektive Analyse von Hauswald et al. (bereits 1998!) verglich über einen Zeitraum von 5 Jahren Patienten mit stumpfen Wirbelsäulenverletzungen, die direkt vom Unfallort in eine von zwei Kliniken (120 Patienten in Malaysia komplett ohne präklinische Immobilisation und 334 Patienten in New Mexico, USA, mit Immobilisation) transportiert wurden. Im Ergebnis zeigten sich weniger neurologische Komplikationen bei den Patienten in Malaysia, die keine Immobilisation erhalten hatten. Die Autoren folgerten, dass Immobilisation wenig oder gar keinen Effekt auf das neurologische Outcome hat.
  2. Die retrospektive Analyse von Haut et al. aus 2010 zur Immobilisation bei über 45.000 Patienten mit penetrierendem Wirbelsäulentrauma stellte fest, dass die Sterblichkeit bei Patienten mit Immobilisation im von ihnen untersuchten Kollektiv doppelt so hoch war. Sie folgerten eine NNT von 1032 für den Benefit eines einzelnen Patienten, die einer Number needed to harm von nur 66 gegenüberstand. In der Folge wurde die Empfehlung zur routinemäßigen Immobilisation bei penetrierenden Verletzungen aus den gängigen Trauma-Kursformaten (z.B. ATLS, ITLS und PHTLS) gestrichen.

Zu den weiteren diskutierten Komplikationen der Wirbelsäulenimmobilisation zählen:

  • Schmerzen und Druckulcera, Agitation, Dysphagie und Noncompliance (z.B. Hewitt 1994, Kwan 2005, Powers 2006, Houghton 2009, Walker 2012, Leonard 2012, Bruijns 2013)
  • Hirndruckerhöhung durch Behinderung des cerebrovenösen Abflusses (z.B. Kolb 1999, Hunt 2001, Mobbs 2002, Lemyze 2010)
  • längere Verweildauer an der Einsatzstelle mit Risiko sekundärer neurologischer Schäden (z.B. Tator 1991)
  • erschwerte Atemwegssicherung und Einschränkung der Atemmechanik (z.B. Heath 1994, Totten 1999, Goutcher 2005, Kwan 2005, Thiboutot 2009)
  • Dislokationsrisiko von Frakturen insbesondere bei geriatrischen Patienten (z.B. Papadopoulos 1999)
  • Risiko schwer wiegender neurologischer Verschlechterung bei Patienten mit M. Bechterew ( ankylosierender Spondylitis (z.B. Podolsky 1983, Thumbikat 2007, Clarke 2010)
  • verlängerte Verweildauer in der Notaufnahme und verlängerte Krankenhausverweildauer
  • erschwerte klinische Untersuchungsmöglichkeiten, verfälschte Ergebnisse der klinischen Untersuchung und vermehrte Strahlenbelastung durch zusätzliche radiologische Diagnostik (z.B. March 2002, Leonard 2012)
  • erhöhte Instabilität bestimmter HWS-Verletzungen durch starre Zervikalstützen (z.B. Galim 2010)

 

Zusammenfassend kommt die dänische Leitlinie zu fünf zentralen Empfehlungen:

  1. Erwachsene Traumapatienten sollten NICHT mit einer starren Zervikalstütze immobilisiert werden (sehr geringe Evidenz, schwache Empfehlung). Stattdessen wird die manuelle in-line-Stabilisierung durch einen Helfer bzw. im Verlauf mit Headblocks oder der Vakuummatratze (ggf. mit zusätzlicher Polsterung) empfohlen.
  2. Erwachsene Traumapatienten sollten NICHT auf einem Spineboard immobilisiert werden, außer es handelt sich um zeitkritische, ABCDE-instabile Patienten, bei denen andere Immobilisationsmaßnahmen zeitaufwendiger wären (sehr geringe Evidenz, schwache Empfehlung).
  3. Erwachsene, ABCDE-stabile Patienten mit neurologischen Ausfällen oder Schmerzen im Bereich der knöchernen Wirbelsäule bei der klinischen Untersuchung sollten auf einer Vakuummatratze immobilisiert werden (sehr geringe Evidenz, schwache Empfehlung).
  4. Erwachsene Traumapatienten mit isolierter penetrierender Verletzung sollten NICHT immobilisiert werden (moderate Evidenz, starke Empfehlung).
  5. Das in der Leitilinie vorgestellte Triage-Tool (siehe Abbildung unten) soll zur Entscheidung über eine notwendige Immobilisation herangezogen werden (keine Evidenz, good clinical practice).

Neue deutsche Leitlinie im September 2022 erwartet

Auch in Deutschland findet ein reger Expertendiskurs zum Thema HWS-Immobilisation statt. Die aktuell vorliegende S3-Leitlinie zur Polytraumaversorgung stammt aus dem Jahr 2016 und befindet sich derzeit in Überarbeitung. Die Veröffentlichung einer überarbeiteten Version ist für September diesen Jahres angekündigt.