Notarztdienst in Hagenow

NEF 6412-82-1

30.07.2022

DRK Lehrrettungswache Hagenow
DRK Lehrrettungswache Hagenow

An diesem Wochenende lerne ich den Rettungsdienst in der kleinen mecklenburgischen Stadt Hagenow kennen. Diese Kleinstadt mit rund 12.000 Einwohner liegt im Westen Mecklenburg-Vorpommerns, rund 30 km südlich von der Landeshauptstadt Schwerin. Das historische Zentrum steht laut Wikipedia beispielhaft für eine mecklenburgische Ackerbürger-Altstadt mit Fachwerkhäusern und anderen Baudenkmalen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.

Der NEF-Standort liegt auf dem Gelände des Westmecklenburg Klinikums in Hagenow. Das Krankenhaus "Helene von Bülow" ist ein Grund- und Regelversorger im südwestlichen Landkreis Ludwogslust-Parchim mit 160 Betten. Es ist ein gemeinsames Unternehmen des Landkreises und des diakonischen Stift Bethlehem aus Ludwigslust. Namensgeber ist Helene Elisabeth Fredericke Henriette von Bülow (1816-1890), eine der Stifterinnen und erste Oberin des Diakonissen-Mutterhauses.

Das Einsatzfahrzeug ist ein Mercedes Vito mit NEF-Ausbau. Zur medizinischen Ausstattung gehören eine Defibrillator-/Monitoreinheit von Zoll, ein MedumatTransport-Beatmungsgerät von Weinmann sowie ein Reanimationssysem "AutoPulse" ebenfalls von Zoll. Besetzt wird das NEF mit Notfallsanitätern des DRK KV Ludwigslust im Eigenbetrieb des Landkreises. Die Einsatzfrequenz liegt im statistischen Mittel bei 5 Einsätzen in 24 Stunden.

Erster Einsatz: Krampfanfall

Der erste Einsatzauftrag des Tages erreicht uns um 11:02 Uhr. Gemeldet ist eine Patientin mit einem hirnbedingten Krampfanfall. Der Einsatzort liegt im ca. 15 km entfernten Städchen Wittenburg.

Vor Ort erwartet uns eine 78jährige Bewohnerin eines Pflegeheimes, die wach und orientiert im Rahmen ihrer Grunderkrankungen mit stabilen Vitalzeichen in ihrem Bett liegt. Sie war von Pflegekräften nicht ansprechbar, mit Konvulsionen und Zyanose aufgefunden worden, die daraufhin den Notruf absetzten. Eine Epilepsie sei bei der Frau nicht bekannt, auch sei ein solches Ereignis bisher nicht aufgetreten. Vor drei Tagen sei es jedoch während des Mittagessens zu einem Streit mit einem anderen Bewohner des Pflegeheims gekommen, währenddessen die Patientin einen heftigen Schlag gegen ihren Kopf erhielt. Es kam zwar zu keiner Bewusstlosigkeit, auch traten weder Übelkeit/Erbrechen noch eine Wesensveränderung auf, allerdings klagt die Patientin immer noch über Kopfschmerzen in dem betroffenen Gebiet sowie über Schwindelgefühl. Da sie wegen ihrer absoluten Arrhythmis bei Vorhofflimmern blutverdünnende Medikamente einnimmt, bringen wir sie zur weiteren Diagnostik ins Krankenhaus nach Hagenow. Der Transport verläuft unkompliziert.

Interessant ist das hier übliche Dokumentationssystem zur Erstellung eines Einsatzprotokolls. Alles läuft über ein Tablet, in das per vorgefertigter Eingabemaske sämtliche Befunde und Maßnahmen eingegeben werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, während eines Einsatzes Fotografien (beispielsweise vom Medikamentenplan) anzufertigen und dem Protokoll anzuhängen. Die Bedienung ist weitgehend intuitiv, das fertige Protokoll kann vorab in die Zielklinik geschickt und dort ausgedruckt werden. Auch an Bord des NEF befindet sich ein portabler Drucker.

Zweiter Einsatz: Hyperglykämie

Dieser Einsatz führt uns erneut nach Wittenburg, dieses Mal jedoch in eine Privatwohnung in einem mehrgeschossigen Gebäudekomplex. Vor Ort erwarten uns bereits die Besatzungen eines RTW und eines Funkstreifenwagens der Polizei.

Unser Patient ist ein etwa 40 Jahre alter Mann, der nur mit Unterwäsche bekleidet auf seinem Bett im Schlafzimmer liegt. Er ist wach, wirkt jedoch leicht desorientiert. Die Vitalzeichen sind stabil.

Durch die Polizei erfahren wir, dass der Mann bereits einige Tage nicht zur Arbeit erschienen war. Weil sein Arbeitgeber keinen Kontakt herstellen konnte, informierte er aus Sorge die Polizei. Diese forderte den RTW und einen Notarzt an.

Der Patient leidet an einem Diabetes mellitus des Typ I. Sein Blutzucker liegt bei umgerechnet 530 mg/dl und damit viel zu hoch. Er spritz normalerweise selbstständig Insulin, fühlte sich in den letzten Tagen jedoch so schwach, dass er nicht dazu in der Lage war. Er klagt über ein starkes Durstgefühl, sonst sind keine weiteren Auffälligkeiten feststellbar. Bereits vor Ort beginnen wir mit einer symptomatischen Therapie, indem wir ihm eine übliche Dosis seines Kurzzeitinsulins verabreichen und über einen periphervenösen Zugang 500ml einer kristalloiden Infusionslösung zuführen. Zur Einstellung des Blutzuckerspiegels und zur weiteren Diagnostik bringen wir ihn ins Hagenower Krankenhaus. Von dort erhalten wir später die Information, dass der Coronatest des Mannes positiv ist. Wahrscheinlich hat die Infektion den Blutzuckerhaushalt derart beeinträchtigt, dass es zu diesem Notfall gekommen ist. Uns überraschen solche Positivbefunde mittlerweile nicht mehr. Bei jedem Patientenkontakt tragen wir persönliche Schutzausrüstung inklusive FFP2-Maske, so dass unser Ansteckungsrisiko vertretbar ist. Die Rettungsfahrzeuge werden aufbereitet und auch die an dem Einsatz beteiligten Polizisten werden über den positiven Befund informiert.

Dritter Einsatz: Bewusstlosigkeit nach Fahrradsturz

Nach einem ruhig verlebten Abend werde ich um 00:11 Uhr aus dem Dämmerschlaf gerissen. Die Einsatzmeldung lautet: Bewusstlosigkeit nach Fahrradsturz. Jetzt zeigt sich der Flächenlandkreis in voller Pracht: Vor uns liegt ein Anfahrtsweg von etwas mehr als 50km.

 

Fast in Niedersachsen angekommen finden wir unseren 65-jährigen Patienten bereits im RTW vor. Er ist immer noch nicht ansprechbar, reagiert lediglich mit Strecksynergismen auf Schmerzreize. Die Spontanatmung ist zwar ausreichend für die Sauerstoffversorgung des Körpers, allerdings fehlen ihm sämtliche Schutzreflexe. Auch der Kreislauf ist beeinträchtigt: er ist tachykard und hypoton. Am Hinterkopf des Patienten findet sich eine ca. 3cm lange Riss-Quetsch-Wunde, deren Blutung jedoch steht. Er hat sich übergeben und eingenässt. Ansonsten scheint er jedoch unverletzt zu sein. Angehörige hatten ihn bewusstlos im Hof aufgefunden und den Rettungsdienst verständigt. Die Liegezeit ist unklar, wird aber wahrscheinlich weniger als eine Stunde betragen. 

Aufgrund der Bewusstlosigkeit und der fehlenden Schutzreflexe beurteilen wir den Atemweg des Patienten als gefährdet und entscheiden uns für eine Schutzintubation für den Transport. Das RTW-Team legt einen zweiten periphervenösen Zugang (für die Applikation von Noradrenalin per Spritzenpumpe) und bereitet die Intubation, das Beatmungsgerät und die Absaugpumpe vor. Zusammen mit dem Notfallsanitäter des NEF gehe ich die Narkosemedikamente durch (Fentanyl, Propofol und Rocuroniumbromid) und präoxygeniere den Patienten mit einer CPAP-Beatmungsmaske. Nach Abschluss der Vorbereitungen und einem kurzen Team-TimeOut erfolgt die Narkoseeinleitung als RSI und die komplikationslose Intubation unter Sicht. Der Patient lässt sich mit moderaten Beatmungsdrücken gut beatmen und durch das parallel zur Infusion einlaufende Noradrenalin bleibt der Kreislauf durchweg stabil.

 

Auch der Transportweg in ein geeignetes Krankenhaus gestaltet sich langwierig. Unser Ziel ist der Schockraum der Helios Kliniken in Schwerin, die Fahrzeit von unserem Einsatzort dorthin beträgt auch unter Nutzung von Sonder- und Wegerechten und bei nächtlich ruhigem Verkehr etwa eine Stunde. Im Schockraum erwartet und ein komplettes Team aus Anästhesie, Unfall- und Neurochirurgie. Die Übergabesituation wird von allen Beteiligten äußerst professionell durchgeführt und der Patient direkt ins Trauma-CT geschickt.


Edit: 02.08.2022

Im Nachhinein konnte ich in Erfahrung bringen, dass unser Patient neben ordentlich Alkohol im Blut auch eine traumatische Hirnblutung hatte. Die Wahl der Behandlung und des Transportzieles erwies sich also als richtig.